“Gestorben, um zu lieben”

Zwei Sinne der Seele stehen noch aus. Der sechste Sinn ist das Leiden. Dazu eine Vorbemerkung.

Ich spreche vom Leiden als Grunderfahrung menschlichen Lebens. Wer leichtfertig vom Leiden spricht ist ein verwöhnter Schwätzer. Wer das Leiden sucht, ist krank. Wer das Leiden glorifiziert ist gefährlich. Jesus hat das Leiden nicht gesucht, aber er hat sich dem Leiden gestellt und den Schmerz durchlitten.

 

Aus diesen Gründen kann ich nicht theoretisch über das Leid schreiben. Die Ehrfurcht vor dem Leiden vieler Menschen verbietet mir das. Ich kann nur ganz persönlich Zeugnis geben von meinen Erfahrungen. Dazu muss ich tatsächlich ganz von vorne beginnen.

Ich verdanke mein Dasein einem Fest der Liebe. Als meine Eltern in tiefer Einheit glückselig waren, wurde ich. Auf dieser innigen Feier war ich der Höhepunkt. Was für ein wunderbarer Beginn.

Meine Mutter war mein erstes Zuhause. In der Geborgenheit ihres Schoßes wuchs ich heran. Ich war sehr zufrieden, genoss ich doch eine liebevolle Rundumversorgung. Es fehlte mir an nichts. In dieser Welt kannte ich mich aus. Meine Mutter war mir alles.

Nach acht Monaten dämmerte mir langsam, dass das so nicht weiter gehen konnte. Es wurde immer enger. Meine Bewegungsfreiheit wurde zunehmend  eingeschränkt. Was zu Beginn mein Paradies war entpuppte sich mehr und mehr als Gefängnis. Wollte ich weiter wachsen, musste ich raus. Mir mit der Vollversorgung meine Lage schön zu reden, verfing nicht mehr. Nur in den Momenten größter Angst, was oder ob überhaupt danach etwas kommen würde, hatte sie Gewicht. Eine Entscheidung musste her, aber ich war wie gelähmt. Schließlich brach es über mich herein.

Die Fruchtblase platzte. Die Felle schwammen mir davon. Ich saß auf dem Trockenen. Meine Welt brach völlig zusammen und löste sich auf. Ich wurde in einen engen Kanal getrieben. Meine Schädelplatten schoben sich übereinander. Totale Panik erfasste mich. Ich hatte Todesangst und lag in Todeswehen.

Plötzlich blendete mich ein helles Licht. So grell, dass ich meine Augen zukneifen musste. Mit einem letzten Aufbäumen schrie ich meine Verzweiflung heraus: „Mein Gott, mein Gott. Warum hast Du mich verlassen?“ Damals war ich noch der Überzeugung, meine Mutter wäre Gott. Doch auch dieser Glaube musste untergehen.

Ich war meinem Leiden und Sterben so hingegeben, dass ich nicht merkte, was um mich herum geschah. Engel hatten mir inzwischen eine warme Decke umgelegt und mich meiner Mutter anvertraut. Ich fühlte mit meinen Händen eine warme, weiche Rundung und spürte an meinen Lippen Leben. Meine Mutter begann mich zu stillen, und ich wurde still. Da erwachte in mir ein Gedanke: Ja, ich war gestorben, aber ich war nicht tot. Ich war geboren. Die Nabelschnur war durchtrennt. Ich sollte werden, wer ich eigentlich bin: ein eigener, einmaliger, selbständiger Mensch. Die Zeit der neun Monate zur Untermiete waren vorbei. Mein zweites Leben begann. Die Reise zu mir selbst. Wissen würde mich nicht weiter bringen. Erfahrungen musste ich sammeln. Das hatte ich erlebt und durchlitten. Ich war nicht verlassen, sondern in eine größere Freiheit entlassen worden. Und das mit einem Segen, der mich bis heute begleitet: Das bedingungslose Ja meiner Eltern zu mir. Ich weiß, dass manche Menschen mit einem Fluch, einem Nein, auf ihre Lebensreise geschickt werden und ein Leben lang an dieser Hypothek zu knabbern haben. Um so klarer hat mich in dem Ja meiner Eltern die Liebe angestrahlt. Die erste Geburt war vollbracht. 

Ich lernte meinen Vater kennen und meine beiden Geschwister. Dabei hatte ich gar nicht gewusst, dass ich welche hatte. Das Schönste war, dass sie sich alle unsagbar freuten. Ich machte die Erfahrung, dass mein nacktes Dasein bei anderen Menschen die größte Freude auslösen konnte. Da war sie wieder, die Liebe. Das Sein ist entscheidend, nicht das Tun! Diese Gewissheit hat mich nie wieder verlassen. Jahrzehnte später wurde sie wundervoll bestätigt. Mit meinem nackten Dasein hatte ich die Liebe meines Lebens gewonnen: Dorothea, das Geschenk Gottes.

Dass ich meinen Tod überlebt habe, hat mich ermutigt mit Lust und Neugierde auf Entdeckungsreise zu gehen. Auch wenn der Preis dafür Schmerz und Leid sein würden. Am Ende steht die Liebe.

Als ich mit knapp zwei Jahren meine Mutter beim Kochen beobachtete, viel mir die Herdplatte auf. Meine Mutter ermahnte mich und sagte: „Heiß! Da darfst du nicht drauf langen, sonst verbrennst du dich.“ Mit großen Augen und voller Ehrfurcht wiederholte ich: „Heiß“, um im nächsten Augenblick hinzulangen. Was bedeutete schon heiß? Einen kleinen Moment später hatte sich mir eingebrannt, was heiß meint. Erneut bezahlte ich meinen Erkenntnisgewinn mit Schmerzen.

Ich erzähle diese kleine Episode, weil ich sie später in der Bibel, im Buch Genesis Kapitel drei ähnlich entdeckt habe. Dort isst Eva den Apfel vom Baum der Erkenntnis, obwohl ihr Gott aufgetragen hatte nur von den anderen Bäumen zu essen. Ich glaube nicht, dass das eine Sünde ist, sondern der notwendige Weg zur vollen Menschwerdung. Adam und Eva wussten nun, was gut und böse ist. Jetzt mussten sie einen eigenen Stand dazu entwickeln und lieben lernen.

Nach meinem Wehrdienst bei der Bundeswehr erlebte ich meinen entscheidenden Sterbeprozess. Gott stellte sich mir in den Weg und ich kam nicht mehr an ihm vorbei. Alles brach zusammen. Freier Fall. Was nicht zu meiner tiefsten Identität gehörte wurde zertrümmert. Ich war ein Nichts. Doch als mich die Wehen des Todes wieder freigaben, war der Theologe und Prophet geboren. Mein Leben nahm eine andere Richtung. Er führte mich tiefer in die katholische Kirche. Gott rückte viel klarer in den Mittelpunkt. Nicht mehr selber der Nabel der Welt zu sein, brachte eine neue Form der Freiheit und eine große Leichtigkeit. Für diese Erfahrung bin ich unendlich dankbar, aber wünsche sie mir nicht noch einmal.

Um die Versuchung das Leiden zu glorifizieren und Gott den Zölibat „aufzuopfern“ hat mich Jesus liebevoll herumgeführt. Ich lernte meine Frau kennen und lieben.

Weil das ganze Leben ein Geburtsprozess ist, weiß ich, dass das nicht der letzte Tod war. Ich bin auch weit davon entfernt Routine beim Sterben zu entwickeln. Aber das Vertrauen das Leiden dort anzunehmen, wo es mich heimsucht, jenseits des Verstehens, ist gewachsen.

2011 begann der vorläufig letzte Sterbeprozess. Er dauerte zehn lange Jahre. Der Theologe war schon bereit, aber der Prophet wollte auch dort noch kämpfen, wo es aussichtslos war. Die totale Ohnmacht konnte er nicht annehmen. Diese Bastion der Eitelkeit musste Gott noch schleifen. Ein schmerzhafter Prozess.

Nun sind der Theologe und der Prophet gestorben. Und mit ihnen die Dogmen, die Ideologien und die Institution. Geboren ist ein einfacher Pilger und Gottesnarr, der mit seinen Brüdern und Schwestern unterwegs ist, seine Zeit verschenkt, zuhört und einfach da ist. Die Trennung von Kirche und Welt, von heilig und profan hat sich aufgelöst.

Im Spannungsfeld von Leid und Liebe reife ich wohl zu dem heran, der ich eigentlich bin. Ich lerne mein eigenes Ja zu mir zu sprechen und mich selber ganz zu kennen. Ich lerne mich zu lieben und heil zu werden, damit ich aus meiner tiefsten Herzensmitte Gott und meine Mitmenschen annehmen kann. Ich glaube, das ist der Sinn meiner Lebensreise. Dann hat der Mensch ein volles Bewusstsein von sich selbst und seinem Gott und ist eins mit seinem Schöpfer, ohne sich in Ihm zu verlieren.

Damit wird mir der Tod mehr und mehr zum Lehrmeister des Lebens. Er öffnet mir die Augen für die Kostbarkeit jedes Menschen und jeden Augenblicks. Er ist nicht das Ende, sondern der Beginn der Verwandlung und Vollendung. Dann bin ich über diese Welt hinaus gewachsen und muss meine Heimat verlassen.

Ich weiß, dass das dem letzten großen Sterbeprozess nicht die schmerzhaften Wehen nimmt. Ich werde einen totalen Kontrollverlust erleiden. Aber ist der Verzicht auf jede Kontrolle nicht vertrauensvolle Hingabe? Und ist das nicht die Liebe?

Mit dem Leiden hatte ich begonnen. Bei der Liebe bin ich angekommen, dem siebten Sinn der Seele.

Gott segne Euch auf dem Weg zu Euch selbst. Fürchtet Euch nicht! Das Leben ist Geburt, der Tod ist der Anfang der Wandlung, und der himmlische Vater ist Euch Mutter und Hebamme.

Mit frohem Gruß

Euer Mitpilger Volker                                                                                   Foto: Volker Krieger

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