Staunen als zweiter Sinn der Seele

Ein kleines Kind sitzt auf der Blumenwiese. Die ganze Aufmerksamkeit ist gebündelt in der Begegnung mit der Blume. Alle Sinne nehmen an der Entdeckung teil. Zeit und Raum haben keine Bedeutung, sie haben sich aufgelöst. Die Welt besteht aus dem Kind und der Blume. Sonst nichts.

Das kleine Kind nimmt die Welt noch nicht durch den Filter eigener Interessen, Pläne und Vorstellungen wahr. Der Schatz dieser Unvoreingenommenheit ist die Fähigkeit zum Staunen. Die Blume wird zu einem Wunder!

Wenn ein Mensch das Staunen verlernt hat, ist sein Zugriff auf die Welt berechnend. Er lernt dann nichts Neues mehr, sondern ordnet alles in sein begrenztes Weltbild ein. Passt es nicht, muss es falsch sein und wird bekämpft. Dann ist er selbst das einzige Subjekt auf der Welt und nimmt alles nur mit der Brille eigener Interessen wahr. Alle anderen werden zu Objekten seiner Wünsche, Bedürfnisse, Pläne u s w. Das Gespür für das Geheimnis geht verloren und alles muss aufgedeckt werden. Damit zerstört er das Wesentliche, weil die Liebe immer auch Geheimnis bleibt. Dieser Mensch kann nicht mehr wachsen. Er ist ein erwachsener Gartenzwerg. Die Welt, die er hinterlässt ist ein Trümmerhaufen.

Die Demut des Kindes macht es zu einem Riesen. Es weiß, dass sich die Wirklichkeit ihm offenbart. Es ist umhüllt von Geheimnissen und Wundern. Sein Leben verwandelt sich in eine abenteuerliche Entdeckungsreise. Nie ist es fertig mit etwas, sondern immer am Anfang. Mit wachen Augen und offenem Herzen erlebt das Kind die Heiligkeit allen Lebens. Alles ist unvergleichlich und einmalig. Das Urteilen und Richten hat ein Ende. Es weiß, dass Wunder scheue Wesen sind. Doch wer staunen kann hat Zeit. Das Kind bleibt stehen und verweilt, lauscht und schaut. So zeigt sich dem Kind der Zauber des Lebens vor seiner Nase, von ganz allein. Mit allem ist es in Berührung und mit allem wird es eins.

Staunen ist der Anfang jeder Gotteserfahrung. In diesem Sinne dürfen wir auch als Erwachsene werden wie die Kinder, um immer mehr hineinzuwachsen in die Gewissheit, dass wir geliebte Gotteskinder sind. Was für ein Glück zu leben in einer wunderbaren Welt! Im Staunen werden wir sie weiter geben als kostbares Geschenk aus Gottes Hand für die nächste Generation.

Foto: Eva-Maria Dorscht

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